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Land ohne Hast

In Masuren vergisst man beim Ausreiten die Zeit. Urige Wälder, weite Wiesen, unergründliche Seen und dazwischen grasende Pferde – im Frühling ist die Landschaft noch fast menschenleer.

Die Pferde der Tierstiftung Eulalia, im westlichen Teil Masurens, stehen in kleinen Gruppen auf der Weide. Zwei Schimmelstuten stecken ihre Köpfe zusammen. In der Nähe grasen ein paar Kaltblüter auf stämmigen Beinen. Unruhig trabt Danek zwischen ihnen hin und her. Der gescheckte Riese mit der langen Mähne weicht geschickt dem Halfter aus, das die 16- Jährige Juni (Wojnicz) – die mit Vornamen eigentlich Eulalia heißt, genau wie ihre Mutter - in der Hand hält. Nicht einmal der angebotene Hafer lockt den Wallach.

Ein friedlicher Lebensabend für die Tiere

Friedlich ist es auf dem fast 20 Hektar großen Hof, dessen tierische Bewohner alle nur knapp dem Tod entronnen sind. „Die meisten Pferde kaufe ich vom Schlachter – als Kilo- Ware“, sagt Eulalia Wojnics, Junis Mutter. Die Besitzerin des Gnadenhofs lebt mit ihrer Familie und über 90 Tieren in der Nähe von Pieki (Peitschendorf), wo es eine Schule, Einkaufsmöglichkeiten und sogar eine Eisdiele gibt.

 

Die Pferdenärrin rettet seit über zwanzig Jahren Tiere von der Straße, aus den Fängen von Tierquälern und vor dem Pferdemetzger. „In Polen hat Pferdefleisch eigentlich gar keine Tradition“, erklärt die Tierschützerin in hervorragendem Deutsch. „Die Schlachtpferde werden vor allem nach Italien und Frankreich verkauft.“ Polen ist neben Belgien und Holland ein bedeutender Produzent von Pferdefleisch. In den einstigen Zuchtställen für Trakehner steht heute vor allem schweres polnisches Kaltblut. Rund 500 Kilogramm setzen Fohlen im Jahr an – für die Bauern ein besserer Fleischertrag als bei der Aufzucht von Rindern.

Pferdemarkt des Grauens

Im südpolnischen Skaryszew findet einmal im Jahr der größte Pferdemarkt Europas statt, erzählt die Tierretterin. Keine Veranstaltung mit rassigen Reitpferden, sondern seit 1433 der größte Umschlagsort für Schlachtpferde. Die Händler pferchen hunderte Tiere aus Osteuropa, Belgien, Holland und Deutschland zusammen. Oft haben die Tiere einen strapaziösen Transport hinter sich. Skaryszew ist nur ein Zwischenstopp auf ihrer langen Fahrt, die meist beim Schlachter endet.

Ausritte in die Natur

Juni führt inzwischen Srocka zum Stall, die heute mehr Lust auf einen Ausritt hat als Danek. Die Tiere, die fast das ganze Jahr über auf der Weide und ihm angrenzenden Wäldchen verbringen, werden ausgiebig gestriegelt, bekommen Mähne und Schweif gebürstet und die Hufe ausgekratzt. Nach dem Satteln und Trensen geht es am langen Zügel vorbei an den Hühnern, dem Chinesischen Schwein Lali und dem Esel Lopez, der wegen einer Fehlstellung der Hufe beim Schlachter gelandet ist. Das Grautier teilt sich mit ein paar Ziegen und Schafen die Weide. Cola, die Hundemischung aus Collie und Berner Sennenhund begleitet die Reiter ein kurzes Stück.

Eulalia Wojnics reitet an der Spitze und erklärt den mehr und weniger geübten Reitern, wie die Zügel in der Hand liegen sollen. Dann fällt sie auch schon in Trab und zeigt, wie man sich bei jedem zweiten Schritt leicht aus dem Sattel hebt, um den Pferderücken zu entlasten. Quer über dem schmalen Waldweg liegt ein Baumstamm. Alle werden langsamer. Ein Pferd nach dem anderen setzt übers Hindernis – auf der anderen Seite angekommen sitzen tatsächlich alle aufrecht im Sattel. Die Gutsbesitzerin weist auf einen Fuchs, der ein paar Meter entfernt durchs Unterholz kriecht und erzählt: „Im Winter sind auch immer wieder Wölfe zu hören“. Es rattern zwar kaum noch Fuhrwerke über die kleinen, oft unbefestigten Straßen, doch die Natur hat sich im ehemaligen Ostpreußen ihre Ursprünglichkeit bewahrt. In den Wäldern sind neben Rehen und Wildschweinen auch Wisente, Elche, Luchse und Dachse zu Hause. Im Frühling fällt bereits pralles Sonnenlicht auf die Kiefern, Birken und Eichen

 

Die Pferde kennen ihren Weg, weit besser als ihre Reiter. Warum nicht ihnen die Führung überlassen und einfach die herbe Schönheit ringsherum genießen. Blau schimmert der See durchs Dickicht. Ein einsamer Angler versucht sein Glück beim Fischen.

Mit dem Kanu unterwegs

Durchs benachbarte Zehn-Seelen-Dorf Babieta fließt die Krutynia, dort gibt es auch eine Kanustation. Das Kajak ist neben dem Reiten, eine weitere Möglichkeit, die Langsamkeit in Masuren zu entdecken. Die beliebteste Wasserroute Polens, die sich mal breit, mal seicht – wilder und sanfter über 100 Kilometer bis zum Fluss Pisa schlängelt, kann in einer Mehrtagesfahrt hinunter gepaddelt werden.

Geschichtliche Eindrücke

Die Pferde gehen wieder im Schritt, schnauben aus. Ein seltenes Gefühl von Freiheit breitet sich aus – flutet wohlig durch den Körper. Im Hier und Jetzt spielt Zeit keine Rolle. Eulalia Wojnics schweigt ebenfalls, unterbricht ihre Erzählungen über ihre Heimat, in der deutsche und polnische Geschichte untrennbar verwoben sind. Die gemeinsame Vergangenheit zeigt sich in zahlreichen Erinnerungsstätten und besonders eindrücklich im Mahnmal Wolfsschanze, dem Führerhauptquartier im Zweiten Weltkrieg.

Die Sonne verschwindet langsam hinter den Baumwipfeln und taucht die Pferde in goldenes Licht. Schweigend - auf einer Bank – kann man das Schauspiel bis zum letzten Sonnenstrahl genießen. Was für eine Wonne für den Betrachter, den nichts treibt, außer vielleicht die Aussicht auf das Essen von Eulalias Mama, die allabendlich die Gäste mit polnischen Gerichten verwöhnt. Ein letztes Schnauben der Pferde, dann ziehen sie sich langsam in den Schutz der Bäume zurück.

 

Eigentlich schade, dass es morgen weiter nach Danzig geht, was sich der weniger reitbegeisterte Teil der Familie ausgesucht hat. Fest steht, dass alle wiederkommen möchten, wie so viele zuvor, die die Langsamkeit in Masuren für sich entdeckt haben.

Mehr Info

Als Artikel erschienen im Magazin: CAVALLO, Ausgabe April 2020

 

www.reiten-in-den-masuren.de

www.eulalia.pl

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