Der Blick aus dem Sessellift, der zum 2000 Meter hohen Aussichtsgrat geht, ist herrlich: Links der Gamsgrat, rechts die Gipfel von Spitz und Gorfion, teilweise noch wolkenverhangen. Ab und zu blitzen Sonnenstrahlen hervor und bringen die letzten Schneereste zum Glitzern - darunter steile Bergwiesen mit bunten Blumen. In der Ferne bimmeln Kuhglocken. Ein Idyll, das auch heute zahlreiche Wanderer und Mountainbiker anlockt. „Da sitzt sie“, tönt es plötzlich aus dem Lift. Ein Finger zeigt in Richtung des Steinadlers, der an der Liftanlage auf die Gäste der Adlerwanderung wartet. Ruhig sitzt der knapp ein Meter große Vogel mit dem bräunlich marmorierten Federkleid da. Auffällig ist die Haube auf dem Kopf des stolzen Tieres, die ihn vor allzu viel Umwelteinflüssen abschirmt.
„Wer hier an einem schönen Sommertag herauf kommt, sieht nur die schöne Seite der Berge“, begrüßt Falkner Norman Vögeli seine Gäste aus der Schweiz, die ihn heute auf der rund zweieinhalbstündigen Wanderung zurück in den Ort begleiten. „Spätestens im Winter ist es hier eisig, es liegen bis zu vier Meter Schnee und alles ist karg und öde“, malt der 46-Jährige ein ganz anderes Bild der beschaulichen Landschaft und fährt sogleich fort: „Mit Zentralheizung, Migros und Co. lässt es sich hier auch im Winter aushalten. Doch die Steinadler, die vor 21 Jahren hierher zurückgekommen sind, kämpfen im Winter fast fünf Monate ums Überleben“. Die Freiheit sei für die Vögel nicht grenzenlos, sondern eine tägliche Herausforderung – ein einziger Fehler tödlich.
Eine Welt – zwei Facetten
Die Alpen – Reich der Adler, Gämsen, Murmeltiere und Sehnsuchtsort von Naturliebhabern – eine Welt, zwei Facetten, je nach Perspektive. Wer genau genug hinschaut erkennt Zeichen des Überlebenskampfs der Tier- und Pflanzenwelt, beispielsweise wenn Norman Vögeli dem Adlerweibchen, das inzwischen auf dem Falknerhandschuh sitzt, die Haube abnimmt. Rundherum wird es still, die Tiere bringen sich in Sicherheit. „Ein Pfiff der Murmeltiere bedeutet, Gefahr aus der Luft. Bei Bodenfeinden pfeifen sie mehrmals hinter einander“, erklärt Vögeli. Mit wenigen Flügelschlägen steigt sein Steinadler in die Lüfte, getragen vom Aufwind, ohne den das knapp neun Kilogramm schwere Tier nicht lange oben bleiben würde. Es gibt nur wenige Tierarten wie die Adler, bei denen die Weibchen größer als die Männchen sind.
Ein Paar – Mensch und Adler
Inzwischen sitzt die Königin auf einer Bergwiese und ist kaum mehr zu erkennen, wird eins mit der Umgebung. „Sie lässt mich nicht aus den Augen und sieht auf zweieinhalb Kilometer eine Maus. Ich bin ihr Partner, ihr ‚König‘“, sagt der Falkner, hebt die Hand mit dem ledernen Handschutz zum Zeichen der Rückkehr. Nur wenig später landet Asul darauf. Ihre mächtigen Schwingen, mit einer Spannweite von zwei Meter 20, schlagen noch zweimal auf und ab, um das Gleichgewicht zu halten. „Sie kommt nicht wegen der Küken, sondern aus einer tiefen Bindung heraus“, sagt der König ohne Flügel, der sich respektvoll vom spitzen Schnabel und den handflächengroßen Krallen entfernt, die eine Druckkraft von Eins Komma zwei Tonnen haben. Seine Königin ist launisch, hungrig und kein Schmusetier. Majestätisch, unbeugsam und erhaben beschreiben die Jägerin der Lüfte wohl treffender. Vielleicht beeindruckt die Steinadlerfrau gerade dadurch, dass sie sich nicht zähmen und dressieren lässt. Sie bleibt ein wildes Tier, dessen Kooperation immer wieder aufs Neue erarbeitet und verdient werden will.
In der Welt der Greifvögel
Die malerische Umgebung ist vergessen. Längst sind alle gebannt von den Erzählungen des Vogelexperten, eingetaucht in die Welt der Greifvögel. Sie sehen Szenen, die Vertrauen und Respekt wiederspiegeln, aber auch Ängste bergen. „Ein Fehler beim Ergreifen eines Murmeltiers, das sich heftig wehrt, kann Asuls Tod bedeuten - durchgebissene Sehnen, eine infizierte Wunde“, ist sich Vögeli bewusst. Das freie Gefolge, also das freiwillige Wiederkommen, kann auch der Abschied von Asul bedeuten. Der Falkner scheint fast alles über die Steinadler zu wissen: „Sie sind monogam und wählen ihren Lebenspartner aus. Zu zweit lässt sich das Leben hier oben leichter meistern und während der rund sechs wöchigen Brutzeit ist das Weibchen auf ihren König angewiesen.“
Die Selektion in der Steinadlerwelt ist gnadenlos. Dank des Schweizer Naturschutzes gibt es im Nachbarland wieder 300 Steinadler Paare, die jedes Jahr im Mai rund 600 Eier legen. Die Hälfte der Jungen überlebt die erste Woche, weitere 50 Prozent die viermonatige Ausbildung bis zum Herbst. Dann müssen sich die jungen Adler verabschieden und eigene Reviere suchen – 1600 Quadratkilometer braucht ein Paar, die Fläche von Liechtenstein. Die Suche nach einer neuen Heimat dauert bis zu fünf Jahren und lediglich fünf bis zehn Steinadler sind dann noch am Leben.
Elite der Steinadler
„Das ist die Elite – die Besten der Besten und daraus suchen sich die Weibchen ihren Partner. Einen Partner, der ihre eigenen Fähigkeiten vervollkommnet“, erklärt der Falkner, der seit fünf Jahren mit der zehnjährigen Asul ‚verheiratet‘ ist und über 27 Jahre mit ihrer Mutter Tiger, die mit acht Jahren in Frankreich eingefangen wurde, dann ins Fürstentum gekommen ist. „Sie ist die Beste, denn sie hat acht Jahre in Freiheit überlebt“, ist Norman Vögeli überzeugt. Mit Tiger und ihrem Nachwuchs ist Norman Vögeli etwas gelungen, dass bisher kein Falkner geschafft hat: Das freie Gefolge im natürlichen Lebensraum der Steinadler. „Die beiden Steinadler, die hier leben, akzeptieren Tiger, ihre Töchter und mich“. Während der Falkner spricht, sitzt Asul auf einem Bänkchen. Ihre undurchdringlichen, bernsteinfarbenen Augen ruhen auf dem Handschuh. Sie fixieren das Küken darin. Mit einem kräftigen Ruck nach vorne verschwindet es im gelben Schnabel.
Seitdem hat er viel von und über seine Adler gelernt und sie von ihm. Tiger und ihre Töchter sind inzwischen an Handys, neonfarbige Sportkleidung, Nordic Walking Stöcke, Drohnen und einiges mehr gewöhnt. Heute habe es keine unliebsamen Überraschungen gegeben, aber wer wisse schon, was hier morgen durch die Luft fliege? Asul kehrt zurück ins Dorf, ihre beiden wilden Artgenossen bleiben in ihrem Lebensraum zurück. Dort steht die Sonne inzwischen über den Gipfeln und taucht sie in gleißendes Licht.
Tipps
- Übernachten: Direkt beim Falkner im Hotel Galina, www.galina.li oder mitten in den Bergen im Berggasthof Sareis, www.huettencheck.de/huetten/berggasthof-sareiserjoch-9497-triesenberg-liechtenstein und im Familienhotel Gorfion www.gorfion.li
- Essen und Trinken: Im Bergrestaurant Sareiserjoch mit Blick auf die umliegenden Gipfel oder beim Picknick auf einer der zahlreichen Touren in Liechtenstein: www.tourismus.li/erlebnisse/sommerurlaub-in-liechtenstein/wandern/
- Wandern mit dem Steinadler: Die Adler-Erlebnis-Wanderung findet bis Herbst, täglich außer montags, auf Anfrage statt: www.galina.li/portal/de-de/falknerei/adler-erlebnis-wanderung
- Im Nationalpark Berchtesgaden gibt es jeden Donnerstag bis Ende Oktober von 10 bis 12 Uhr eine Wanderung durchs Tal der Adler zum Kennenlernen ihres Reviers. Mit etwas Glück sieht man auch den ‚König der Lüfte‘: www.nationalpark-berchtesgaden.bayern.de/veranstaltungen/anzeige.php?id=33584, im Adlergehege Berchtesgaden leben ebenfalls Steinadler: www.adlergehege-berchtesgaden.de
- Sehenswertes in Liechtenstein, das Fürstentum feiert 2019 300-jähriges Bestehen: Kunstmuseum Liechtenstein mit Hilti Art Foundation: www.kunstmuseum.li
- Panorama Spaziergang zum Schloss Vaduz, Vaduzer Städtle-Rallye für Familien, E-Bike Touren und vieles mehr mit allen weiteren Informationen dazu über: www.tourismus.li
Kommentar schreiben